Mitstreiter (vlnr): Sebastian Winkelsträter, Nina Röttger, Mabonagrin (Das Horn), Morgaine Prinz, Anna Bücken, Jens Müller

tavelrunde exkursion horn gruppe 2017

Eigentlich wollten die Mitglieder dieser Kulturgruppe – die tavelrundaere – schon Anfang Dezember aufbrechen, um ihre erste Aventiure außerhalb von Bibliothek und Lehrstuhl zu bestreiten. In Dortmund wollten sie Burgruinen erklimmen, die alte Stadtmauer besichtigen und sich sogar auf den Phantastischen Lichter-Weihnachtsmarkt wagen, dessen mangelnde historische Authentizität normalerweise jeden Mediävisten an den Rand eines Nervenzusammenbruchs und direkt in die nächste Schenke treibt.

Doch dank der Grippewelle und anderen unvorhergesehenen Ereignissen fiel der Ausflug genauso tragisch ins Wasser wie einst Tristan, der den Drachen erschlug, danach aber von dessen giftigem Geruch aus den îsernen hosen gehauen wurde. Um dem geneigten Leser trotzdem einen Exkursionsbericht bieten zu können, entschloss sich eine Delegation der tavelrunde, stattdessen die Reise nach Siegburg anzutreten und dort den mittelalterlichen Weihnachtsmarkt zu besuchen.

 

Die Stadt Siegburg selbst hat mediävistisch interessierten Besuchern eine Menge zu bieten. Historische Bauten, Teile der alten Stadtmauer – das Mittelalter ist hier allgegenwärtig. Direkt im Zentrum etwa steht die Nachbildung eines spätmittelalterlichen Schandpfahls, dessen Vorbild sicher in den Gemäuern des Stadtmuseums ruht. An der von Wind und Wetter zerfressenen, steinernen Figur hängen eiserne Ketten; eine in den Boden eingelassene Tafel informiert, dass an diesem Ort verurteilte Verbrecher der öffentlichen Schande preisgegeben wurden.

 

Die Pfarrkirche Sankt Servatius beherbergt die Gebeine des Heiligen Anno, der Mitte des 11. Jahrhunderts nicht nur Erzbischof von Köln war, sondern auch den erst sechsjährigen Kaiser Heinrich IV. bei einem spektakulären Staatsstreich auf einem Schiff verschleppte, um die Regentschaft der Kaiserin Mutter zu schwächen. Außerdem machte er aus der Burg, die noch heute über Siegburgs Dächern aufragt, die Benediktinerabtei Sankt Michael, weswegen der Berg, auf dem das Kloster steht, Michaelsberg genannt wird. Es war vermutlich auch ein Siegburger Mönch, der Annos – oft umstrittene – Taten im sogenannten Annolied festhielt. Wer vor einem Besuch der Stadt hineinlesen möchte, dem sei die zweisprachige und recht preiswerte Ausgabe des Reclam-Verlages empfohlen.

 

Der mittelalterliche Weihnachtsmarkt zu Siegburg öffnet alljährlich von Ende November bis Ende Dezember seine Tore. Im Gegensatz zum Dortmunder Phantasie-Spektakel, das sich über ein riesiges Areal erstreckt, ist er recht überschaubar. Zwischen der Backstube, in der Seelen (hierbei handelt es sich nicht um Luzifers Frühstück, sondern um längliche Brote mit Kümmel oder Salz) und Wecken zubereitet werden, und der Marktbühne, auf der Gaukler und Musiker die Gäste unterhalten, gibt es etwa vier Reihen aus Buden, in denen Kramer und Zünftler ihre Waren feilbieten. Dargestellt wird das Spätmittelalter zu Beginn des 15. Jahrhunderts.

Natürlich kann auch dieser Mittelaltermarkt keinen Anspruch auf wahre Authentizität erheben. Während die Teilnehmer der Exkursion mit ihrem Streifzug bei der in diesem Jahr zum ersten Mal aufgebauten orientalischen Zeltstadt begannen und sich dann weiter zum eigentlichen Markt vorarbeiteten, stolperten sie über kartoffelige „Goldlocken“ und gewisse orthographische Probleme, die mit vollendeter akademischer Eloquenz diskutiert wurden:

 

Apfelküchlein... also, dieser Umlaut...“

„Hmm. Als mittelhochdeutsches Wort besser mit ,iuʻ? Apfelkiuchlein?

„Hmm...“

„Hmm...“

 

Aber im Schein der Laternen und Feuer, die unter dem Siegburger Nachthimmel flackerten, waren diese Kritikpunkte schnell vergessen. Zu sehr lockten handgemachte Seifen, klingelnde Schellenbänder und geschmiedeter Stahl. Zu gut dufteten die Speisen.

Ach ja, spîse unt tranc... Als Wissenschaftler haben es sich die fünf tavelrundaere natürlich nicht nehmen lassen, alles ganz genau unter die Lupe oder, besser gesagt, auf den hölzernen Löffel zu nehmen. Im höfischen Roman wird bekanntlich nicht so detailliert übers Essen geredet, da man andernfalls als Fresser galt, der nur sein leibliches Wohl im Kopf hatte. In einigen Erzählungen werden allerdings die verschiedenen Getränke genannt, die man bei Hofe zu sich zu nehmen pflegte: lûtertranc (weißer, gewürzter Wein), dessen rotes Pendant sinôpel oder mete – Met. Der süße Honigwein erfreute sich nicht nur beim mittelalterlichen Adel großer Beliebtheit. Auf den Mittelaltermärkten der Neuzeit ist er das Getränk schlechthin und wurde in Siegburg nicht nur pur, sondern auch mit Kirschsaft versetzt serviert – ein köstliches Getränk, das im Winter heiß genossen wird und auf den Namen „Wikingerblut“ hört.

 

Wîze gasteln, wie sie Gawan im Parzival von der Fährmannstochter Bene serviert bekommt, haben die Exkursionsteilnehmer leider nicht gefunden. Allenfalls das Knoblauchbrot, nach dessen Genuss man mit einem einzigen Atemhauch die Streitmächte Kaiser Karls in die Flucht schlagen könnte, erinnerte entfernt an die weißen, runden Semmeln. Darüber hinaus schwelgten die tavelrundaere in orientalischen Falafeln und – natürlich – Spanferkel vom Spieß.

 

Als das Gelage vorüber war, begann für die fünf Recken und Maiden allerdings die wahre Aventiure. Zwischen den Schlägen des Schmiedehammers, der vor den Augen der Zuschauer immer wieder auf glühendes Metall traf, und den Stimmen der Gaukler, die unweit auf der großen Bühne mit Fackeln jonglierten, erklang auf einmal der langgezogene, tiefe Ruf eines Horns.

Wie von einer höheren Macht – oder der gleichen verschrobenen Idee – gelenkt, rieben sich die Helden den Rauch der Holzfeuer aus den Augen und fanden sich plötzlich vor einem Marktstand wieder, an dem Trink- und Rufhörner feilgeboten wurden. Sie wurden sogleich auf ein großes Horn aufmerksam, das äußerlich zwar unscheinbar wirkte, dessen Stimme aber umso lieblicher erschallte, als der Kramer hineinblies. Rolands vielbesungenes Horn Olifant, ja selbst das Horn Gondors wirkten dagegen wie verstopfte Kinderflöten.

 

Den Teilnehmern der Exkursion war sofort klar: Dieses Horn musste für die Tavelrunde errungen werden! Allein beim nächsten Projekt der Gruppe – der Produktion eines Hörspiels – würde es gute Dienste leisten. Denn so sehr man es auch versucht, man kann nicht jedes Geräusch nachahmen, indem man Kokosnuss-Hälften aneinanderschlägt.

 

Doch der Kramer wusste ebenfalls um die Macht des Horns. Listig stellte er den edlen degen und vrouwen verschiedene Aufgaben. Nur wenn sie diese meisterten und sich als würdig erwiesen, sollten sie das magische Horn bekommen.

 

Also erklommen sie zunächst einen fremdartigen, runden Bau aus Holz, der von Kurbeln angetrieben wurde und sich dabei schneller und schneller um sich selbst drehte. Im Parzival muss sich der Ritter Gawan auf einem bockenden Bett, dem Lit marveile, halten; das Karussell marveile in Siegburg drohte die Helden ebenfalls abzuwerfen, doch sie hielten sich bis zum Ende auf ihren hölzernen Streitrössern. Nachdem das geschafft war, kämpften sie zwar nicht gerade gegen Riesen, aber doch gegen wahrlich riesige Schlangen vor der einen oder anderen Taverne. Sie warfen den Einen Ring in die Esse des Schmieds und wehrten eine gut gerüstete, zehntausend Mann starke Reisegruppe ab, deren Nikolausmützen aus dem edelsten Polyester gewebt worden waren und deren rote Nasen im Schein des Feuers schimmerten wie Rubine.

 

Da endlich erkannte der Kramer, dass er sein Kleinod guten Gewissens weitergeben konnte. Höfisch verneigte er sich und überreichte den tavelrundaeren das Horn, die es fröhlich in die Heimat trugen. Fortan wart es nach einem Helden aus einer Erzählung Hartmanns von Aue, dessen Stimme angeblich laut wie der Schall eines Horns klingt, Mabonagrin genannt.

Und wenn der geneigte Leser zum Ende dieses Exkursionsberichts für einen kurzen Moment innehält und lauscht, kann er seinen Ruf sicher hören.