Wie nicht anders zu erwarten, wurde den tavelrundaeren nach Passieren der Brücke der Zutritt verwehrt. Doch ein tavelrundaere wäre kein tavelrundaere, machte er sich nicht vorher kundig – auch hier sollte ein Schnipsel Papier abermals Einlass gewähren. Diesmal allerdings nicht durch eine machina magica, sondern durch einen homo abacus (wobei hier angemerkt sei, dass sich keiner ganz sicher war, ob es sich nicht um ein ebenfalls artifizielles, anthropomorphes Ding handle, einen Homunculus – die Schriftführerin wurde deshalb beauftragt, Dr. Faustus für weitere Analysen alsbald zu kontaktieren). Das zweite Zettelchen des Tages in den Fäusten schauten sie in ihre Runde. Nein, vollzählig waren sie noch immer nicht. Aus der Not wurde eine Tugend gemacht: Die Schatzkammer der Burg sollte beschaut und anschließend mit der dann hoffentlich ankekommenen Nachhut weiter in das Innerere der Burg vorgedrungen werden.

Die Schätze befanden sich in den Katakomben des Rübenacher Hauses. Goldene Messkelche und Uhren, edelsteinbesetzte Reisealtärchen, fürstliche Wappengläser und anderes Geschirr; auch Waffen und Kuriositäten mehrerer Jahrhunderte waren in durchsichtige Kästen gefasst. Den Eroberern war nicht zu viel versprochen worden. Besonders eine kleine Gold-Plastik, die auf den Namen "Die Völlerei von der Trunksucht befördert" hörte, ließ die freudetrunkenen Herzen der rundaere höher schlagen. Hier schien ein Meister am Werk gewesen zu sein, Meister Christoph Lindberger! Fast hätte man meinen können, jemand, der solche Schätze anzuhäufen vermochte, müsse einen Dukatenscheißer besessen haben. Und tatsächlich, auch ein solcher stand ausgestellt – der Lebens-Odem aber fehlte ihm.

 

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(Christoph Lindberger: Die Völlerei von der Trunksucht befördert aus dem Jahre 1557)

 

Noch ganz wirr im Kopf und mit Goldbarren in den Augen, holperten und stolperten die tavelrundaere aus den Kammern. Ein paar Meter weiter öffnete sich der Innenhof, in dem sie sich niederließen, um kurz zu verschnaufen und auf die Nachzügler zu warten. Gerade hatten sie es sich bequem gemacht, da sah einer etwas aus den Augenwinkeln. Zunächst hielten sie es für die ankommende Nachhut, doch gab es sich im Halbschatten alsbald nicht allzu menschlich. Etwas mit langem, zotteligen Fell schritt durch den Torbogen des Innenhofs. Lange, weiße Fänge zeichneten sich zu gut im Schatten des Mauerwerks ab und ließen auf die ungeheure Größe schließen – es musste ein wahres Untier sein! War es etwa ein Fenris, ein Cerberus, der das Gemäuer bewachte? Konnte es ihre Absichten erschnüffeln, ihr geheimes Vorhaben wittern? War es gekommen sie zu holen? Der heidnische Gott Pan schlich sich in die Herzen und füllte Venen und Arterien bis zum Rand. Die lange Rute des Scheusals peitschte als letztes um die Ecke und als das Getier seinen monströsen Schatten auf unsere armen Abenteurer warf, schlossen sie die Augen und sandten rasch ein Stoßgebet gen Himmel.

Als sie die Augen wieder aufschlugen stand es direkt vor ihnen, blickte sie aus großen Augen an – und wedelte freudig mit seinem Schwanz, ganz auf Liebkosung erpicht. Brav harrte es an des Herrchens Leine, was ein wohlerzogener Wolfshund von Éire!

Der allseitigen peinlichen Berührtheit war nicht gerade zuträglich, dass genau in diesem Moment die Nachzügler in den Innenhof traten und das lachhafte spectaculum der bibbernden Vorhut vor dem freudig tänzelnden Hund sahen. Doch bevor zu einer Erklärung angesetzt werden konnte, tauchte als deus ex machina die Burg-Führerin auf und sie folgten ihr mit noch pochenden Herzen und schweißbenetzten Händen – zumindest bei einem Teil -, aber auch endlich vollzählig, in das Innere der Burg.

Die erste statio führte das reiche Waffenarsenal der Burg vor. Brustpanzer, Helme und Sturmhauben; Bolzen, Hellebarden und Kugeln, ebenso wie Lunten- und Radschlossgewehre. Die Überlegung, etwas zu Eroberungszwecken zu entwenden, wurde jäh unterbrochen, als die Führerin sie zum Weitergehen animierte. Durch eine kleine Tür war die restliche Gruppe bereits in den Untersaal des Eltzer Familienzweigs der Rübenacher gegangen. Die verpasste Chance war schnell vergessen, denn auch dieser Raum barg Faszinierendes. Nicht nur stammten die Stützbalken der Fachwerk-Konstruktion noch aus den Erbauungsjahren, auch hingen prächtige Bilder und ein Wandteppich an den Wänden, dessen Formsprache den ein oder andern aufmerksamen Runden-Verfolger an die grafischen Ergüsse des jüngst erschienenen Hörspiels erinnern könnte. Der Raum barg aber noch etwas, etwas, dass die rundaere noch freudiger stimmte: In der Mitte des Raumes stand eine imposante, schwere Tavel…äh Tafel! Dem Drang, sich sofort an die angestammten Plätze zu setzen, konnten sie nur schwerlich widerstehen. Und um sich nicht erneut der Lächerlichkeit preiszugeben, wendelten sie sich eilig eine enge Treppe hinauf, die in das Schlafgemach des selbigen Familienzweigs führte.

Das Gemach präsentierte sich in grünen, floral-geflochtenen Ornamenten, die sich über die Decke und alle Wände zogen. Zur Linken befand sich ein Altar, der erst eingelassen wurde, nachdem sich die Eltzer so zerkesselflickt hatten, dass sie sich nicht mehr an einem dem Gebet hatten widmen wollen. Die drei Familienteile der Eltzer (Kepenich, Rübenach, und Rodendorf; benannt nach den jeweilig angeheirateten Ehefrauen) wohnten daraufhin in verschiedenen, weitestgehend eigenständigen Teilen der Burg. In der Mitte des Gemachs befand sich ein Bett, das auf ein mit Treppen flankiertes Podest gestellt war. Eine Erklärung: Wohin weicht warme Luft noch gleich? Richtig, nach oben – und oben unter dem Himmel des Bettes, war es so sicherlich stets himmlisch warm. Nicht etwa teuflisch? Nein, so heiß wurde es sicherlich nicht und teuflisch war höchstens, dass man zu Zeiten der Eltzer häufig aufrecht schlief, damit der leibhaftige Tod nicht denke, man sei schon verstorben und deshalb die Seele vorzeitig in den Himmel oder in teuflische Gefilde überführte. Eine ganz pragmatische Erklärung: In den meisten Gemächern war einfach nicht genug Platz, als dass alle ausgestreckt hätten schlafen können - wobei die wohlhabenden Eltzer da auszunehmen sind. Diese werden wohl auch das ein oder andere Mal einen Teil ihres Vermögens nachts 'auf die hohe Kante' ihres Bettes gelegt haben, um es vor geneigten Beutelschneidern zu schützen.

Ein Stockwerk höher lag der Rittersaal, der mit kleinen, kniehohen Kanonen vollgestellt war. Scheinbar Kinderspielzeug, doch als die rundaere erfuhren, dass es sich um durchaus funktionsfähige Modelle handelte, ratterten die Denkräder erneut: Wo war Munition? War in dem letzten Waffenarsenal Schwarzpulver gewesen? Würden die Waffen überhaupt etwas gegen Mann und Mauer ausrichten können? Doch das Ganze schien wenig Aussicht auf Erfolg zu haben und als sie die ulenspieglisch von den Wänden glotzende Masken erblickten, kamen sie sich ebenfalls ganz schön närrisch vor.

Sie erfuhren, dass die Masken für freie Rede standen: Jeder Ritter durfte hier wie der Narr ganz unverblümt sagen, was er denkt. Just mussten sich die rundaere auf die Zungen beißen. Wie man meinen könnte aber nicht, da sie ihren Plan nicht einfach so hätten ausposaunen dürfen, denn die über dem Ausgang angebrachte Rose des Schweigens verbot jedem auch nur ein Wort darüber zu verlieren, was in diesen vier Wänden gesprochen wurde, sondern vor allem, weil sich ein paar Etagen unter dem Denkorgan etwas anderes grummelnd bemerkbar machte. Ein Glück, dass die Führerin zu Anfang das Finale der Besichtigung angepriesen hatte: Die Küche. Sie bissen sich nicht mehr auf die Zunge, sondern die Zähne zusammen, riefen sich ihr Vorhaben ins Gedächtnis und schlossen, die kulinarischen Gedanken beiseiteschiebend, zur nächsten statio auf.

Nachdem sie eine weitere Treppe hinabgegangen waren, wurden sie von zwei Bären begrüßt. Tische und Stühle standen bei Spinnrad und weiterem Wohnarsenal und säumten die pelzigen Bettvorleger. Das darauffolgende 'Comtesszimmer' wurde ob der sich in diesem Raum befindenden Bilder junger Erwachsener aus dem 18. Jahrhundert in nomine getauft. Die niedrigen Fensterbänke deuten aber auch auf eine ehemalige praktische Nutzung als Kinderstube hin.

Weiter nach unten gewendelt, ging es in den Fahnensaal. Spätgotisches Gewölbe und ein imposanter Erker in östlicher Ausrichtung, sowie an den Wandecken angebrachte Engel sprachen für die frühere Verwendung als Kapelle. Der eigentliche Blickfang war aber ein anderer: An der der Tür entgegengesetzten Wand stand ein prachtvoller, quietschbunter Kachelofen. Wie viel mag der wohl wert sein? Und…wie bekommt man ihn aus seinem Fundament gebrochen? Doch bevor dieses Problem jemand lösen konnte, ertönte ein Geräusch, das den oben liegenden Bären zu Lebzeiten alle Ehre gemacht hätte – und die rundaere wussten nur zu gut, was dies bedeutete. Zeitgleich spurteten sie in die Küche, um vor allen anderen dort zu sein. Und was für ein Festschmaus sich ihnen bot: Von der Decke hingen allerlei geräucherte und gut abgehangene Leckereien – ein wahres Schlaraffenland. Schnell stellten sie sich aufeinander und alsbald konnte der oberste wankelmutige Stapelaere beherzt in das erstbeste Würstchen beißen. Aber…was für eine sonderbare Konsistenz? Welch sonderbarer Geschmack von getrocknetem Birkenpech? Welch gemeine Plastik wurde hier aufgetischt? Auf dem Gang ertönten die nahenden Schritte der restlichen Gruppe. Und wieder einmal mussten die tavelrundaere einer pînlîcheit entgehen. Rasch bauten sie den Menschen-Turm zu Babel ab, stellten sich so unschuldig als ging hin und pfiffen, als wäre nichts geschehen - nur das Brummen ihrer Mägen vermochte sie zu verraten.

Nachdem der innerburgische Streifzug beendet war, gingen die tavelrundaere in die nachmittägliche Sonne des Innenhofes hinaus. Ein wohliger Duft lag in der Luft und bevor den Hirnen die Entscheidung überlassen wurde, befahlen die Bäuche den Nasen zu folgen und führten die rundaere zu Wildgulasch und wilden, frisch erlegten Pommes in die burgeigene Taverne. Auch an herben Hopfengetränken mangelte es nicht. Bei solch gemütlichem Schmaus und Trunk vergaßen sie nur allzu schnell, warum sie eigentlich hergekommen waren (für den werten Leser sei hier vermerkt, dass sich unter Umständen ähnliches auch bei anderen Sitzungen der Tavelrunde ereignen kann). Erst als sie ob der schlechten Erfahrung mit dem deutschen Stahlrosse in einem Automobile auf halber Strecke zur Heimat saßen und sich bereits das Siebengebirge am Horizont abzeichnete, kam es ihnen in den Sinn: Schon wieder hatten sie eine Eroberung auf ganzer Linie vermasselt.

Doch so satt und müde wie sie waren, kümmerte sie das letztlich herzlich wenig, ist es doch das Abenteurer, das zählt und sowieso: Schatz und Burg sind mit Papyrus ja immerfort zugänglich, eine Eroberung quasi obsolet. Oder auf ein nächstes Mal verschoben.

…denn wie immer: Ein eigener Eroberungsversuch ist sehr anzuraten!

 

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(Das Abschluss-‚Selbstfie‘)

 

Post scriptum

Für die wahrheitsgetreue Wiedergabe wird seitens des Autors keinerlei Gewähr übernommen. Kleine Einstreuungen von Fiktion und Überschneidungen historischer Authentizität sind möglich. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren lokalen Mediävisten-Bund.

 

Zur Lektüre empfohlen
Ritzenhofen, Ute: Burg Eltz, 5., aktualisierte Auflage Aufl., Berlin München: Deutscher Kunstverlag 2017 (Großer DKV-Kunstführer).

 

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(Abschiedsblick auf Burg Eltz)