Die mittelalterliche Literatur ist nicht nur faszinierend, sie kann manchmal auch ganz schön fremdartig oder gar irreführend sein. Frei nach dem Motto von ‚Misheard Lyrics‘ möchten wir euch heute eine dieser durchaus tückischen Textstellen präsentieren:
Swaz man der werbenden nâch ir minne sach,
Kriemhilt in ir sinne ir selber nie verjach,
daz si deheinen wolde ze eime trûte hân.
er was ir noch vil vremde, dem si wart sider undertân.
- NL Str. 44
In dieser Passage des Nibelungenlieds wird die Abneigung der schönen Kriemhild gegenüber den sie Umwerbenden ausgedrückt, da sie sich selbst nicht eingestehen möchte, dass sie irgendeinen von ihnen als Geliebten haben möchte, oder um es auf mhd. zu sagen, dass sie irgendeinen ze eime trûte hân wollte. So leicht man trûte hân auch als Truthahn lesen könnte und sich fragt, was die Prinzessin mit dem Vogel vorhat, handelt es sich bei hân letztlich doch nur um das Hilfsverb ‚haben‘ und bei trûte um den Geliebten bzw. ein wenig besser nachvollziehbar den Ver- oder Angetrauten.
Wer solch einen Fauxpas vermeiden möchte oder durch die Ausstellung seiner Mittelhochdeutschkompetenzen selbst einen potentiellen trûte beindrucken will sollte sich merken, dass wir es hier mit dem Phänomen der sog. Frühneuhochdeutschen Diphtongierung zu tun haben. Einem Lautwandelprozess, in dem die mhd. Langvokale î, iu und û zu den Diphtongen ei, eu und au werden. Sprich aus mîn niuwes hûs wird ‚mein neues Haus‘. Die Buchstabenkombination iu wird dabei im Mhd. wie ein langes ‚ü‘ ausgesprochen.
Bildquelle: Hundeshagener Kodex, 15. Jhd.