Bild 1Buchcover von Lambert Schneider.Walther von der Vogelweide sticht durch die Fülle seines Werks  neben anderen  Minnedichtern  hervor.  Sein  um  1200  verfasstes  Minnelied Under der Linden findet sich in  der Großen  Heidelberger Liederhand- schrift aus dem 13. Jh., auch Codex  Manesse  genannt.  Hierin  vereint sich eine Vielzahl  mittelhochdeutscher lyrischer  Texte.  Bei  Walthers bekanntem vierstrophigen  Minnelied  Under der linden handelt es sich um ein sogenanntes  Mädchen-  oder Frauenlied. In diesem erinnert ein weibliches lyrisches Ich  eine  geheimzuhaltende  Liebesvereinigung in freier Natur, auf einem Bett aus Blumen und Gras, die nur eine Nachtigall hat beobachten dürfen.

 

Seht euch meinen roten Mund an, meine glühenden Wangen! Wir blieben gänzlich ungesehen, nur die Nachtigall sang ihr tandaradei. Ob wohl jemand, der des Weges kommt, bemerkt, dass die Blumen und das Gras unter dem Lindenbaum gebrochen sind? Nun, was mag derjenige sich dabei wohl denken...?

 

Bild 2 NeuWalther von der Vogelweide. Große Heidelberger Liederhandschrift. (Quelle)Im deutschen Sprachraum des 12. Jhs. entwickelt sich die lyrische Gattung des Minnesangs, die, von französischen Vorbildern inspiriert, an Adelshöfen zunächst von Laien und zunehmend von gebildeten Dichtern ausgeübt wird. Ganz gemäß dem traditionellen Verständnis von Lyrik (von griech. lyra: ,Handharfeʻ) handelt es sich hierbei um eine performative performative Gesangskunst, die als „repräsentative Kunstübung der Hofgesellschaft selbst […] wohl die ,höfischsteʻ der Gattungen“ ist (Brunner et al. 1996, S. 26). Im Wertgefüge der Adelshöfe werden „Minnende als ideale höfische Menschen“ (Lembke 2013, S. 16) ausgewiesen und im feierlichen Ritus wird die Unterhaltungskunst zelebriert, die höfische Werte, den Hof selbst und zuweilen auch den Minnesänger durch ihre klangvolle Inszenierung zu repräsentieren vermag. Charakteristisch für den Minnesang ist die recht „begrenzte Zahl an stereotypen Elementen,  die wiederum  als  Grundinventar  für  wenige  stilistische Kunstgriffe dienen“ (Klug 2005, S. 23), ein überschaubares Formen- und Motivspektrum also, aus dem dennoch eine Vielfalt der künstlerischen Ausgestaltung entsteht.

 

Dô hat er gemachet/ alsô rîche/ von bluomen eine bettestat (Str. 3, V. 1ff.)

 

DIE MOTIVIK

In Walthers Under der linden sind allerlei gängige Naturmotive vertreten, die in der Landschaft des mittelhochdeutschen Minnesangs frequent auftreten und zum Teil mit zeitgenössischer Symbolkraft hervortreten: gepflückte Blumen, die die verlorene Jungfräulichkeit darstellen, ein Kissen aus Rosen, die für die ideale Liebe, für Weiblichkeit und Sexualität stehen – zunächst fallen die gehäuften floralen Metaphern und Motive auf.

 

DIE SZENERIE

Der locus amoenus, der Liebesort als typischer poetisch konstruierter Raum des Minnesangs, drängt sich durch die zahlreichen topographischen Details und Lokalpräpositionen in den Vordergrund des Liedes. Aus der höfischen Epik etwa ist der locus amoenus in Form von Gottfrieds Minnegrotte oder Hartmanns Baumgarten bekannt. In Under der linden wird dieser Ort auf traditionelle Art, mittels Linde, Heide, Wald, Tal, Blumen, Pfad, Gras und Vogel dargestellt. Die Linde, zugleich namensgebend für das behandelte Minnelied, „ist der bevorzugte Baum des literarischen Lustortes […] in Liebesdichtung und höfischen Romanen“ (Klein 2010, S. 342). Naturbilder wie der locus amoenus treten „nicht um der Bilder selbst willen“ (Ehrismann 2008, S. 98) auf. Sie bedienen, ähnlich wie florale Motive, kollektive Bilder und Vorstellungen, die innerhalb des konventionellen, rhetorischen Registers des Minnesangs eine Verständigung zwischen Minnesänger und höfischem Publikum sicherstellen.

 

DAS MINNEKONZEPT

Walthers sogenannte Mädchenlieder mit ihrer blumigen Liebesidylle widersprechen den Vorgängervarianten, ist doch den romanischen Vorbildern des »grand chant courtois« der (Frauen-)Dienstgedanke das zentrale Anliegen des fin´amor, als dessen Motor gerade die Nicht-Erfülltheit der Liebe gelten muss. Dort nämlich herrscht „das paradox amoureux als poetisches Prinzip“ (Auge/ Witthöft 2016, S. 5). Ohne Frage wird bei den Trobadors auch „sexuelle Erfüllung […] angestrebt“ – doch wird „die sinnlich-erotische Liebe […] lediglich als Wunsch und Hoffnung für die Zukunft, nicht als tatsächlich geschehen beschrieben“ (Lembke 2013, S. 54). Freizügiger verhält es sich zwar in der romanischen Pastourelle, dieser allerdings ist Under der linden nicht zuzuordnen. Für die ,hohe (höfische) Minneʻ ist also ein Spannungsbogen zwischen Hoffnung und Leid repräsentativ, der im ,Lindenliedʻ jedoch geglättet ist.

 

Was er dort unter der Linde sanft mit mir tat soll niemand je erfahren...

 

DIE PERSONIFIKATION

Wie sich erst am Schluss des Liedes herausstellt, ist nur das klein[e] vogellîn (Str. 4, V. 7) eingeweiht in das, was am locus amoenus geschehen ist. Nach Ansicht des weiblichen Ichs ist auf dieses jedoch Verlass. Die Nachtigall wird mit dem Adjektiv getriuwe, übersetzbar mit ,treu, getreu, wohlmeinendʻ, charakterisiert, wohl schmunzelnd, weil das Vögelchen aus physiologischen Gründen ja ohnehin nicht sprechen, nichts verraten kann.

Doch zeigt sich noch ein weiterer Grund dafür, dass dieses Vögelchen mit der Bezeichnung getriuwe ganz offenbar personifiziert wird: Hinter der unscheinbaren, kleinen und zusätzlich im Diminutiv geführten Vogelfigur, die zu jedem Strophenende mit ihrem tandaradei erscheint, könnte sich die selbstreferenzielle Stimme des Minnedichters verbergen, der dieses Lied mündlich aufführt.

 

tandaradei/ schône sanc diu nahtegal (Str. 1, V. 8f.)

 

Dies würde auch erklären, warum das wiederkehrende tandaradei im reinen Erinnerungsmoment der Sprecherin an das Minneereignis, wie aus dem Nichts, als der Vogelgesang des fernen Lustortes auditiv wieder wahrnehmbar erklingen kann.

Hier fallen zwei textuelle Ebenen ineinander – räumliche und zeitliche Grenzen der Erzähllogik werden ausgehebelt, indem ein Aktant der Binnenebene in die Rahmensituation des Erinnerns eindringt: Es wird erinnert, und gleichzeitig erklingt die Stimme der erinnerten Nachtigall aus der Vergangenheit. Erklärbar wird dieses logische Problem, wenn sich hinter dem singenden Vogel ein selbstreferenzielles Motiv verbirgt, mit dem sich der Komplize der Liebenden – der Minnesänger –  als das Bindeglied zwischen wirklicher und fiktiver Welt ausweist.

Bild 3Miniatur aus dem Codex Manesse. (Quelle)Die  unscheinbare,  aber  unvergleichlich  singende  Nachtigall  ist seit je ein etabliertes Symbol der Dichtkunst. Indem der Dichter während der Präsentation womöglich liedintern auf sich selbst als Minnesänger verweist, zeigt er, dass „das Minnewesen mit dem Wirken des Sängers steht und fällt“ (Brunner et al. 1996, S. 132). Denn: Der Minnesänger ist der Gestalter sowohl des poetischen Raums des locus amoenus als auch der konzipierten höfischen Minne, die er die Figur erinnern lässt. Beide sind genuin literarische Erscheinungen, denn nur „im öffentlichen Vortrag von Dichtung wird Minne vorübergehend Teil der Realität der höfischen Gesellschaft“ (Lembke 2013, S. 35).

Einzig durch die Verfasser und Interpreten des Minnesangs finden derlei poetische Motive und Minnekonzepte Eingang in die Zelebrationen der Adelsgesellschaft, um so vreude zu generieren und,  als identitätsstärkendes Plaisir, die Hofkultur feierlich zu repräsentieren.

 

Der vorliegende Artikel basiert auf der Modulabschlussprüfung „– Selbst-/Re-/Präsentation – Walthers Minnelied Under der linden zwischen Selbstreferenzialität, höfischer Repräsentation und Performanz“, Dozent: Hr. Dr. Peter Glasner, WS 2016/ 17, von Melanie Alessandra Moog.