Der Erec Hartmanns von Aue wurde als erster Artusroman deutscher Sprache um 1185 verfasst. Er handelt vom gleichnamigen Helden Erec, der die schöne Enite zur Frau gewinnt, im Liebesglück allerdings seine Herrscherpflichten vernachlässigt. Um diesen Fehler zu bereinigen, begibt sich das Liebespaar gemeinsam auf âventiure und besteht eine Reihe gefährlicher Verwicklungen. Erbost, u.a. über die vermeintliche Treulosigkeit Enites, verbietet Erec seiner Gattin den Mund und degradiert sie zum Pferdeknecht. Erst mit dem Ende des Abenteuerritts und zahlreichen Liebesbeweisen durch Enite findet die Versöhnung statt – mit einem prächtig geschmückten Edelross, das Enite zum Geschenk erhält.
Ein schallender Peitschenhieb aus der Hand des ungehobelten Zwerges Maledicur – damit wird die âventiure des Erec eröffnet. Der Hieb mit der Peitsche also, der normalerweise einen Gaul zum Laufen bringen soll, trifft sowohl Ginovers Hofdame als auch den unbewaffneten Protagonisten Erec schändlich und treibt den discours dieses höfischen Artusromans überhaupt erst an. Peitschenhiebe, streitende Ritter auf ihren Pferden, der gefährliche Abenteuerritt eines Ehepaares, ein ungewöhnlicher (weiblicher) Pferdeknecht und magische Pferdegeschenke – mit dem Erec verfasst Hartmann von Aue, nach der Vorlage von Erec et Enide des Chrétien de Troyes, eine Erzählung, durch die sich die Pferdethematik als bedeutender Topos zieht...
Folgt man, sinnbildlich, den zahlreichen Hufspuren, die durch diesen Artusroman führen, so wird im Vergleich zur Vorlage deutlich, dass sich Hartmann den Pferde-Topos für diesen Roman umfangreich nutzbar macht, mehr noch als Chrétien. Im Folgenden soll untersucht werden, welches Spektrum von Bedeutungen die Pferde im Erec aufweisen.
Dabei soll das zentrale Augenmerk der Gehalt des Pferde-Topos für den Erec als Paarroman sein: Auf welche Weise sind die Pferde als Repräsentanten der Trieb-Sphäre womöglich mit dem zentralen Konfliktpunkt des Romans, dem sogenannten verligen, d.h. dem müßigen Frönen der Liebesfreuden durch das junge Herrscherpaar, in Verbindung zu bringen?
Und: Liefern die mit Pferden zusammenhängenden Episoden, insbesondere Erecs Kämpfe, Enites Knechtschaft und die Pferdegeschenke, womöglich Aufschluss über Enites und Erecs Rollen als Ehegatten und Herrscher? Quod est demonstrandum!
Man soll das Pferd bekanntlich nicht von hinten aufzäumen. Deshalb seien hier einige interessante Fakten zum Pferde-Topos vorangestellt. Bedeutsame Fakten zum (literar-)historischen, etymologischen, naturwissenschaftlichen und mythischen Hintergrund sollen das Verständnis des Pferde-Topos erweitern und auf diese Weise erhellen, wie das Bedeutungsfeld Pferd für den Erec Hartmanns interpretierbar ist.
Die Literatur kennt viele besondere Pferde. „So ist schon bei Homer die enge Verbindung von Ross und Reiter elementarer Bestandteil seiner Dichtung“ (Gephart 2007, S. 353). Gleich einem trojanischen Pferd können sich im Pferde-Topos tieferliegende Interpretationsmöglichkeiten verbergen, wie noch gezeigt werden soll. Und beginnend mit Pegasus liegt, dem antiken Mythos zufolge, die Inspiration der Dichter selbst im Sinnbild eines (geflügelten) Pferdes, ein aus dem griechischen Mythos stammendes Bild, das im Tristan (V. 4731f) auch Gottfried von Straßburg referiert.
Das Pferd hat im Mittelalter bereits eine lange Geschichte vorzuweisen: Es nahm „in den Opferriten der Eisenzeit statistisch eine herausragende Rolle ein, und […] offenbar auch weiterhin im Kult germanischer Stämme“ (Simek 2014, S. 66). Bereits im 4.-3. Jh. v. Chr. wurde es domestiziert und von Indogermanen nach Westeuropa eingeführt. So begünstigte es (Kriegs-)Geschichte, „Schicksal und kulturelle Werdung“ ganzer Völker (Ackermann-Arlt 1990, S. 2f.).
Für die mittelalterliche Gesellschaft hat das Pferd großen Stellenwert, wofür auch der umfassende hippologische Wortschatz des Mittelhochdeutschen spricht.
Der Oberbegriff ist „mhd. phert (v. mlat paraverēdus), was auch ein leichteres Gebrauchspferd bezeichnen kann“. Desweiteren gibt es „die mœre / môre (einReit- und Marschpferd für den Ritter und seinen Knappen)“, den Zelter (zeltend phert, „ein auf Passgang bzw. Tölt dressiertes Reitpferd für Damen“), „ors,ros oder marc (lat. dextrarius, dem Ritter vorbehaltenes Reit- und Kampfpferd)“, das jagephert (Jagdpferd) etc.
(Mehr Informationen zum mittelalterlichen (Pferde-)Vokabular sind unter der Seite https://www.animaliter.uni-mainz.de/2014/01/31/pferd-e-4-i-terminologisches zu finden.)
Das Pferd wurde jedoch nicht nur gebraucht und benannt, sondern auch naturkundlich betrachtet. „Die große Fülle der Naturgeschichten des Mittelalters“ spiegelt einen „Trend der Zeit“ Hartmanns wider: „Wissenstatbestände“ werden ausgiebig beschrieben, nun auch „an den großen Höfen“ (Lewis 1974, S. 9). Die Vielzahl naturkundlicher Schriften zeugt „vom Interesse des mittelalterlichen Menschen am Tier“ (ebd.) – so auch am Pferd.
Naturbücher zeichnen sich markant durch moralisch-allegorische Tierdeutungen aus. In den Etymologiae Isidors von Sevilla haben Pferde Emotionen: Sie „freuen sich, wenn sie [mit ihrem Reiter] gesiegt haben“, und „erkennen ihre eigenen Herren wieder, während sie ihre Zähmung vergessen, wenn [die Pferdebesitzer] ausgetauscht werden“ (Isidorus Hispalensis, S. 453).
Im Erec zeigen die Pferde sich dem Knecht Enite gegenüber empathisch und besonders fügsam (V. 3468ff.) - sie sind, wie bei Isidor, teils als emotional und intentional gezeichnet. In diesem Paarroman wird die Pferdeperspektive des „Wohlgefühls“ integriert (V. 364f.) und die Pferde werden auf der Hochzeit Erecs und Enites explizit vorzüglich bewirtet (V. 2137).
Magische und religiöse Bedeutungsdimensionen des Pferdes sind nach J. de Vries „alt und typisch germanisch“ (Lewis 1974, S. 20). Dem Pferd wohnte einstmals eine höchst sakrale Funktion als Opfer- und Orakeltier inne. Im mythisch-heilerischen Sinne ist das Pferd im zweiten Merseburger Zauberspruch, in Rossarzneien und heilenden Pferdesegen präsent.
Hartmann bringt diese mythische Divinität, die dem Pferd traditionell anhaftet, im Erec größtenteils auf einen christlichen Kurs: So lässt er den christlichen Gott beim ersten Knechtdienst als gedachten Reiter auftreten. Selbst dem Ross Gottes nämlich würde Enites tatkräftiger Knechtdienst gefallen (V. 356ff.).
Bei einer Flucht Erecs und Enites vor einem lüsternen Grafen appelliert der Erzähler an Gott, er möge ein rettendes Ross senden (V. 6698ff.), was dem „Pferd eine geradezu [christlich-] religiöse Bedeutung verleiht“ (Lewis 1974, S. 20). Aber auch ein ideales Pferd mit dezidiert vorchristlichen Evokationen – die Elementenlehre und Szenen antiker Liebesgeschichten – lässt Hartmann mit dem prächtigen, versöhnenden Pferdegeschenk an Enite auftreten – ausgerechnet dieses heidnisch geschmückte Ross darf im Erec wohl als das herausragendste Pferd überhaupt betrachtet werden.
Nebst dieser nahezu kultischen Ausstaffierung eröffnet Hartmann im Erec jedoch auch einen Zugang zum Pferd, der sich in die überaus profane, alltägliche Wahrnehmung desselben im Mittelalter einfügen lässt: das Pferd als Gebrauchsgegenstand des Ritters.
EREC – EIN BERITTENER HELD
Der unerfahrene Erec muss zu Beginn des Romans noch auf einem (damenhaften) pherit (statt etwa einem marc) reiten, sich erst qualifizieren und sich mit anderen Rittern messen, um schließlich zum idealen Ritter und Herrscher zu werden – mit einem seinen Status kennzeichnenden Edelross.
Gegen den starken Mabonagrin im verwunschenen Baumgarten wird die Figur des Erec schließlich im finalen Streit zu Ross mit einer sakralen Aura umwoben, seine ritterlich-herrschaftliche Idealität betonend.
In der Anfangsepisode allerdings wird Grundlegendes verhandelt: Das Ross erscheint hier noch als reines Instrument zum Sieg, und wer sein Ross nicht beherrscht, wird von den Zuschauern schändlich verhöhnt (V. 823). Die Pferdestärke steht in Relation zu dem Verbrauch an Schilden und Speeren (V. 780ff.); das Pferd wird so zum materiellen Maßstab ritterlicher Tüchtigkeit – und Erec holt in schwerster körperlicher Arbeit die größtmögliche Kraft aus seinem Pferd heraus (V. 812), um zu siegen, seine Reputation herzustellen – und Enite zur Frau gewinnen.
Nicht nur Kampfkraft ist Bestandteil idealer Kalokagathie: Erec muss sich auch als Ehemann bewähren. „[I]m Erec […] springt die Nähe zwischen der Metaphorik von Ross und Reiter und dem zentralen Triebkonflikt des Romans ins Auge. Die Schlüsselstelle des Romans bildet ja das sog. verligen des frisch vermählten Königspaares in Karnant“ (Gephart 2007, S. 360), in dem Erec und Enite ihrer Fleischeslust fröhnen – „oder anders formuliert: Sie lassen die Pferde mit sich durchgehen“ (Gephart 2007, S. 361). Eine zentrale Schlüsselkompetenz, die Erec als Ehemann erst erwerben muss, ist die Triebregulation. Schon Platon verwendet Ross und Reiter als Sinnbild für Trieb und Vernunft. Sind die Pferde Stellvertreter für Erecs Triebe, dann ist es sinnbildlich Aufgabe der verführerischen Gattin – die zum Pferdeknecht wird – für Erecs Züchtigkeit zu sorgen.
ENITE – EIN UNGEWÖHNLICHER PFERDEKNECHT
Der Knechtdienst der Enite ist ein ungewöhnliches Element, besonders im Angesicht der Gender-Verhältnisse des Mittelalters, da er für gewöhnlich von Männern ausgeführt wird. Dass hier also Rollenverhältnisse verhandelt werden, liegt nahe.
Enite fungiert als (stummer) Knecht klug, hilfreich und treu (V. 3351ff.) und hat erheblichen Anteil an Erecs glückender Synthese ehelicher und ritterlicher Qualitäten. Zusätzlich ermöglicht der Knechtdienst die Demonstration ihrer eigenen Qualitäten als Ehefrau: dass sie vil guote (V. 3278) und wîplîch (V. 3280) ist, dass sie die nötige diemuot (V. 3453) hat, und dass ihr mit vrou Sælde (V. 3460) und got (V. 3461) sogar höhere Mächte beistehen, sodass die im Erec ansonsten gefühllosen Pferde auf wundersame Weise ir ungestüemez streben lân/ und senfteclîchen mite gân (V. 3469f.), die unter gewöhnlichen Umständen Arbeit für vier Knappen (V. 3454f.) bereitet hätten.
Enite erduldet den Knechtdienst, den Erec als Prüfung sieht (V. 3591) und nach bestandener Prüfung (V.6783ff.) flüchtet das Paar bezeichnenderweise gemeinsam auf einem Pferd vor den Gefahren von Limors (V. 6732ff.).
...und alsô schœne daz der schîn
den ougen widerglaste... (V. 7295f.)
Das Pferd ist im Mittelalter ein Luxusartikel und gilt als kostbares Geschenk. Gleich zwei Pferdegeschenke erhält Enite, kontrastiv zu dem zweimaligen Knechtdienst: einen Schimmel beim Verlobungsauszug aus Tulmein (1423ff.), dessen Schilderung per Unvergleichbarkeitstopos und Litotes beim zweiten Pferdegeschenk (V.7274ff.) noch überboten wird, einem idealen, schwarz-weißen (Damen-)pherit mit einem ungewöhnlichen grünen Strich, das Enite bezeichnenderweise aus der Hand zweier anderer tugendhafter, weiblicher Herrscherinnen erhält.
Enite, die nun kein Knecht mehr ist, darf zum Schluss des Romans ihre weibliche, standesgemäße Rolle einnehmen; sinnbildlich geschieht dies über die Annahme des Geschenks eines idealen, prächtig verzierten Pferdes. Aus der geläuterten Ehefrau wird die ideale Herrscherin (V. 10107ff.) – aus dem Pferdeknecht die edle Pferdebesitzerin.
Es hat sich gezeigt, dass der Pferde-Topos als praktische Herausforderung auf dem âventiure-Ritt dient: So muss Erec zu Ross seine Ritterlichkeit beweisen und so muss Enite ihre Tugendhaftigkeit unter den Mühen des Knechtdienstes demonstrieren.
Anhand der mit Pferden verknüpften Episoden wurde zudem festgestellt, dass in diesem Paarroman die Rollen Enites und Erecs in Herrschaft und Ehe verhandelt werden.
Im abstrakten Sinne wird das Pferd hier zur Spiegelfläche: Es erzeugt moralisch-allegorische Dimensionen unerwünscht-triebhafter und ideal-tugendhafter Eigenschaften, die im Pferde-Topos eine symbolische Verhandlungsebene finden.
Der vorliegende Artikel basiert auf der Modulabschlussprüfung „Der Pferde-Topos im Mittelalter und seine Bedeutung für den Erec Hartmanns von Aue als Paarroman“, Dozentin: Fr. Ann-Kathrin Deininger, SoSe 2016, von Melanie Alessandra Moog.